„Ecce homo“

„Ecce homo“ – mit diesem Wort stellt der Statthalter Pilatus den gefolterten, mit Dornen gekrönten und mit einem Umhang gehüllten Jesus der Menschenmenge vor (Joh 19,4–6). „Seht, welch ein Mensch!“ übersetzt die Lutherbibel diese beiden Worte. Auch in der Literatur spielen sie gelegentlich eine Rolle, nicht nur als Titel. Auf besondere Weise greift Leo Perutz (1892–1957) das Bild des verfolgten, gequälten und verachteten Menschen auf.

„Nachts unter der steinernen Brücke“ heißt ein Roman von Leo Perutz, sein wohl bekanntester, an dem er insgesamt fast drei Jahrzehnte geschrieben und akribisch gefeilt hatte, bis er 1953 erschienen ist. Es ist kein Roman im herkömmlichen Sinn, vielmehr handelt es sich um 14 Einzelerzählungen, die zusammen genommen ein romanhaftes Bild ergeben. In ihnen geht es um die Liebe zwischen Kaiser Rudolf II. und der Jüdin Esther sowie um verschiedene auch historische Personen der Zeit um 1600 in Prag. Die Geschichten sind teils märchenhaft, teils mythisch, sie spiegeln das Leben der Prager Juden und ihrer Kultur der Zeit vor dem Dreißigjährigen Krieg wider.

In der Erzählung „Die Sarabande“ geht es um ein Duell zwischen dem Grafen Collalto und dem Baron Juranic, das aus einer Auseinandersetzung der beiden bei einem Tanz zustande kam. Im Fecht-Duell ist der beim Tanzen so plumpe Baron dem selbstbewussten Grafen überlegen und hat ihn schließlich auf den Tod unter seinem Degen. Er schenkt Collalto aber das Leben unter der Bedingung, dass er die ganze Nacht durchtanze. Drei kroatische Musiker aus dem Gefolge des Barons spielen eine Sarabande, zu der der Graf nachts auf den Straßen Prags tanzen muss. Zwei Fackelträger gehen voran, zwei weitere Männer mit Pistolen unterstreichen den Ernst der Lage des Grafen. Immer erschöpfter wird Collalto mit der Zeit; er kann nur jeweils kurz pausieren wenn die frommen Kroaten an einer Marienstatue vorbeikommen, denn hier halten sie an, um zu beten. Der Baron merkt das, und will die Pausen seines Gegners verhindern, indem er die kleine Kolonne in die Judenstadt führt, wo es keine Kruzifixe und christlichen Statuen gibt. Das gibt Graf Collalto den Rest; er schreit verzweifelt um Hilfe. Dies hört Rabbi Loew und schaut zum Fenster heraus. Collalto fleht ihn um ein Christusbild an. Auf wunderbare Weise lässt der Rabbi auf der gegenüberliegenden Wand ein Bild entstehen, den „Ecce homo“. Davor geht auch Baron Juranic mit seinem steinernen Herzen in die Knie, klagt sich selbst an und erbarmt sich des Grafen. Das „Ecce homo“ war aber kein Christusbild:

Gegenüber, auf der anderen Seite der Gasse, war ein Haus durch Feuer zerstört, und nur eine einzige Mauer stand noch aufrecht, die war vom Alter und von Rauch geschwärzt. Und auf diese Mauer wies der hohe Rabbi mit seiner Hand. Auf dieser Mauer ließ er durch seine zauberische Kraft aus Mondlicht und Moder, aus Ruß und Regen, aus Moos und Mörtel ein Bild entstehen. Es war ein „Ecce homo“. Aber es war nicht der Heiland, nicht der Gottessohn, auch nicht der Sohn des Zimmermanns, der aus dem galiläischen Gebirge in die heilige Stadt gekommen war, um das Volk zu lehren und für seine Lehre den Tod zu erleiden ­ nein, es war ein ‘Ecce homo‘ von anderer Art. Doch solche Erhabenheit lag in seinen Zügen, so erschütternd war das Leiden, das aus seinem Antlitz sprach, daß der Baron mit seinem steinernen Herzen von einem Blitzschlag des Selbsterkennens getroffen wurde und als erster in die Knie sank. Und vor diesem ‘Ecce homo‘ klagte er sich an, daß er in dieser Nacht ohne Erbarmen und ohne die Furcht Gottes gewesen war.

Mein Hauslehrer, der stud. med. Jakob Meisl, der mir diese Geschichte wie viele andere aus dem. alten Prag erzählt hatte, machte eine kurze Pause.
„Viel ist nicht mehr zu sagen“, beendete er dann seine Erzählung, „und was noch zu sagen wäre, ist nicht sehr wichtig. Es heißt, daß der junge Graf Collalto in seinem Leben nie wieder getanzt und daß der Baron Juranic den Dienst quittiert hat, und mehr weiß ich nicht von ihnen. Der ,Ecce homo‘ des hohen Rabbi Loew? Es war nicht Christus. Es war das Judentum, das durch die Jahrhunderte hindurch verfolgte und verhöhnte Judentum war es, das auf diesem Bild seine Leiden offenbart hat. Nein, geh nicht in die Judenstadt, du würdest es dort vergeblich suchen. Die Jahre, Wind und Wetter haben es zerstört, keine Spuren sind von ihm geblieben. Aber geh durch die Straßen, wo du willst, und wenn du einen alten jüdischen Hausierer siehst, der seinen Binkel von Haus zu Haus schleppt, und die Straßenjungen laufen hinter ihm her und rufen: ‘Jud! Jud!‘ und werfen mit Steinen nach ihm, und er bleibt stehen und sieht sie mit einem Blick an, der nicht der seine ist, der von seinen Ahnen und Urahnen herkommt, die wie er die Dornenkrone der Verachtung getragen und die Geißelhiebe der Verfolgung erduldet haben – wenn du diesen Blick siehst, dann hast du vielleicht etwas, ein Kleines und Geringes, von dem ,Ecce homo‘ des hohen Rabbi Loew gesehen.“

https://is.muni.cz/el/1421/jaro2014/NJII_94/um/23725145/Perutz_Die_Sarabande_NudsB.pdf

 

 

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