Tilman Allert | Der Mund ist aufgegangen

Tilman Allert
Der Mund ist aufgegangen
Vom Geschmack der Kindheit
Hardcover, 96 Seiten
zu Klampen Verlag Springe 2016
ISBN 9783866745360
Euro 12,90 €

„Ich weiß noch ganz genau, als ich das erste Bonbon von meinem Großvater bekam. Es war Werther’s Echte, und ich war Vier. Ich hatte ein bisschen Mühe, das glitzernde, goldene Bonbon auszuwickeln, aber dann: Ich werde nie diesen ersten Geschmack vergessen, süß und sahnig und unheimlich gut …“ So beginnt ein legendärer Werbespot aus den 1990er Jahren. Und während diese Worte gesprochen werden, sieht man einen kleinen Jungen, der ein Bonbon auswickelt und es sich in den Mund steckt – und wie sich dann seine Gesichtszüge verklären …

An diesen Werbespot musste ich bei Tilman Allerts Büchlein mit dem schönen Titel „Der Mund ist aufgegangen“ denken, denn er definiert recht schön die Art seiner Geschmackserinnerungen. Sie sind so – und zugleich auch wieder so auch wieder nicht. Sie sind nicht dieser Art, weil es sich um keine situativen Erinnerungen handelt, wie sie gern in ähnlichen Büchern beschrieben werden (etwa Andreas Hartmann [Hg.], Zungenglück und Gaumenqual, München 1994). Und sie sind wiederum so ähnlich, als es in ihnen vielfach um eine Beschreibung der Techniken handelt, die das jeweilige Geschmackserlebnis erst bewerkstelligen. Neben den Händen, die nicht nur auswickeln, sondern auch mal in der Hosentasche nach den verborgenen Genuss-Schätzen eines Jungen kramen müssen, ist es vor allem der Mundraum mit Gaumen, Zähnen, Lippen und Zunge, die hier im Zusammenspiel tätig sind und neue und wunderbare Welten erschließen. „Die Liebe zum Draußen, sie entsteht in der Höhle des Mundes: eine Erkundungsstation in Gaumen und Rachen. Die Lippen und die Zunge, später die Zähne, assistieren den frühen Abenteuern der Einverleibung“. Ob das Himbeerbonbon, das so lange im Mundraum hin- und hergeschoben wurde, bis es sich zur Murmel verkleinert hatte oder der ungeliebte Fisch, der „zweiphasig“ gekaut wurde: Die Zähne erkundeten die kleinen und kleinsten Happen auf etwaige Gefahren – sprich: Gräten hin, bis diese Fischhäppchen nach ausgiebigem Hin- und Hergeschiebe zwischen den Kauflächen nach hinten weiter transportiert wurden, wo dann die Zunge eher widerwillig nur noch einen lauwarmen Brei empfing. (Zum Glück gab’s Kartoffeln als Beilage).

Es sind nicht nur kindliche Geschmackserlebnisse, die in den 18 Miniaturen beschrieben werden (Nappo, Salmiakpastillen, Götterspeise), sondern unzweifelhaft auch die der 1950er Jahre (Lebertran – und noch nicht Sanostol). Allert, Jahrgang 1947, emeritierter Professor für Soziologie und Sozialpsychologie in Frankfurt, schreibt nicht vordergründig erlebnishaft, sondern ähnlich, wie er seine Protagonisten Hände, Zähne, Zunge, Lippe agieren lässt: behutsam, sich vorwärtstastend, aber immer so eindrücklich und genau, dass man die beschriebenen Speisen und Getränke – aber auch Tabak oder ein Kamillendampfbad – selbst zu schmecken oder zu riechen meint.

Auch religiöse Aspekte werden genannt – so im Zusammenhang des Fischs, den es freitags gab, wobei „dem sakralem Bezug … mit andächtigem Schweigen Rechnung getragen“ wurde. Freilich weniger aus religiösen Gründen als vielmehr aufgrund der Situation des Fischessens an sich, eine heikle „Aufgabe, die es zu bewältigen galt“. Allert schließt seine Erinnerungen mit der „Hostie“ ab – was einen zunächst wundert, da sie bekanntlich meist nach nichts schmeckt (oder, wie unser kleiner Sohn seinerzeit sagte: nach Mineralwasser, wenn man es essen könnte). „Die communio bildete deshalb auch die größte Irritation im oralen Erleben, ohne eigenes Zutun und von fremder Hand in den Mund gereicht und mit einer Wirkung, die die Zunge zu ertasten suchte“. Dabei konnte es Probleme geben, wenn sich die „sperrige Scheibe“ unter dem Gaumendach verkeilte und man sie nicht einfach beißen und kauen durfte, was sakrilegisch gewesen wäre. Aber irgendwie markierte sie auch ein Ende der Kindheit – vor allem im evangelischen Kontext, wo bei der (später als die Erstkommunion stattfindenden) Konfirmation wenigstens der winzige Schluck Wein für eine gewisse Erleichterung im Gaumen sorgte. Jetzt gehörte man irgendwie zur Erwachsenenwelt, „besiegelt durch den Abschied vom Kinderfahrrad. Ab sofort fuhr man auf einem Herrenrad, mit Stange“.

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