Vor 75 Jahren kam „Rudolph“ zur Welt

Das Kirchenjahr im Schaufenster (5)

Wenn Böse gut und Arme reich werden

Es war einmal. So beginnen Märchen – auch Weihnachtsmärchen. Und sie handeln davon, dass böse Menschen plötzlich ihr Herz entdecken, dass aus Verlierern Sieger werden und aus Außenseitern Spitzenreiter. So wie Rudolph, das Rentier, das wegen seiner roten Nase von allen verspottet wird, durch das Wunder einer Christnacht aber aufsteigt zum Leittier des Weihnachtsmann-Schlittens.

Begonnen haben diese Geschichten mit der berühmten Erzählung von Charles Dickens, „A Christmas Carol“. Hier ist es der böse alte Scrooge, der am Weihnachtsabend zum mitfühlenden Menschen wird. Seitdem wurden immer wieder und immer mehr Geschichten dieser Art geschrieben. Von „Carol-Philosophy“ spricht man in dem Zusammenhang, und alljährlich bereichern uns Film und Fernsehen um neue Varianten dieses Themas der Mitmenschlichkeit und der wunderbaren Umkehr, die mit dem Weihnachtsfest ausgelöst werden oder an ihm zum Tragen kommen.

Im Kaufhaus entstanden

1939 erblickte Rudolph das Licht der Welt. Robert L. May, ein Angestellter der amerikanischen Kaufhauskette Montgomery Ward, hatte das Rentier als Weihnachts-Werbefigur erfunden und mittels millionenfach verteilter Heftchen („Gimmicks“) populär gemacht. May selbst hatte das Schicksal des aus körperlichen Gründen Zurückgesetzten als Kind am eigenen Leib erfahren, und so schrieb er diese Geschichte – eine moderne Version des „Hässlichen Entleins“ – mit Blick auf das Mitleid vor allem jüngerer Kunden, aber eben auch als eine weihnachtliche Geschichte. Trotz des Krieges und des Papiermangels dieser Jahre wurde das Heftchen bis 1946 sechsmillionenmal verkauft. Mays Schwager, Johnny Marks, schrieb ein Lied zu dieser Geschichte (stark verkürzt und auch mit einem anderen Akzent), das 1949 erstmals aufgenommen wurde und seither aus der weihnachtlichen Geräuschkulisse nicht mehr wegzudenken ist.

Es ist in gewisser Weise bezeichnend, dass diese besondere Art einer Weihnachtsgeschichte in einem Kaufhaus beginnt und merkantile Ziele hatte: Man kann die Geschichte des Weihnachtsfestes in unseren Breiten nicht darstellen, ohne auf den Einfluss der amerikanischen Kultur zu schauen. Denn zweifellos ist unsere heutige Art, Weihnachten zu begehen, einerseits stark von der Kommerzialisierung geprägt, die wiederum im „Weihnachsmann“ – Santa – ihre Ikone besitzt. Und andererseits wird auch unser „Liedgut“ (und sei es nur das der Weihnachsmärkte und Kaufhäuser) von ihr bestimmt – ein oft nur noch fernes Echo der weihnachtlichen Botschaft.

Vom Adventsheiligen zum Weihnachtsmann

„Santa“ wird er in dem Rentier-Lied kurzerhand bezeichnet, eigentlich Santa Claus – und dies verrät auch seine Herkunft: Es ist der heilige Nikolaus, bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, der hinter der Figur des Weihnachtsmannes steckt. Begonnen hatte die Deformierung des Heiligen, der im 4. Jahrhundert Bischof war in Myra an der Südküste der heutigen Türkei, allerdings schon viel früher und auch in Deutschland selbst. Unter dem Einfluss des Bürgertums und der zunehmenden Säkularisierung entstand aus dem heiligen Bischof Nikolaus, Christkind und ihren jeweiligen Begleitfiguren im 19. Jahrhundert eine Kombinations- und Kompromissfigur, der Weihnachtsmann. Sie entwickelte sich wohl zunächst im protestantischen Norden Deutschlands und hatte hier ihr Hauptverbreitungsgebiet. Das äußerliche Erscheinungsbild dieses Weihnachtsmannes festigte sich bis zur Mitte des Jahrhunderts; ein Bild des Malers Moritz von Schwind trug wesentlich dazu bei: Das Bild „Herr Winter“. Diese Allegorie der kalten Jahreszeit mit dickem Kapuzenmantel, Stiefel, Christbäumchen im Arm und Stechpalmenblättern um den Kopf ist nach der Volkskundlerin Ingeborg Weber-Kellermann „das erste Konterfei des Weihnachtsmannes“. Dieser Umbruch ermöglichte später auch, die weihnachtlichen Gabenbringer vollends zu entkirchlichen und sie etwa im kommunistischen Russland durch „Väterchen Frost“ zu ersetzen.
Vom 6. Dezember, dem Tag des heiligen Nikolaus, wanderte der Weihnachtsmann zum 25. Dezember weiter, um an diesem Tag seine Gaben zu bringen. Er kommt auch nicht mehr aus Myra, sondern vom Norden her: „Der Winter ist ein rechter Mann“, dichtete schon Matthias Claudius, „kernfest und auf die Dauer.“ Er ließ seinen „Herrn Winter“ am Nordpol wohnen (mit Sommerresidenz in der Schweiz …) , wohin auch „Santa Claus“ später zog. Aus dem Esel bzw. Schimmel, die dem Heiligen mit der Zeit beigegeben waren, wurden Rentiere, die einen Schlitten ziehen; in dem Gedicht „The night before christmas“ aus dem Jahr 1822 werden sie auch mit Namen vorgestellt: Dasher, Dancer, Prancer, Vixen, Comet, Cupid, Donner und Blitzen. Und nun eben auch Rudolph … Längst erscheint Santa als virtuelle Figur, die auf einer Ebene steht mit Hänsel und Gretel aus dem bekannnten „Weihnachtsmärchen“ (!) oder auch der winterlichen Märchenfigur Frau Holle.

Gabenbringer

1931 beauftragte die Coca-Cola-Company einen Zeichner zur Gestaltung des Weihnachtsmannes für Werbezwecke. Entstanden ist ein familientauglicher alter Herr mit weißem Bart, schwarzen Stiefeln und Coca-Cola-rotem Mantel. So sehr bringt sich das Unternehmen mit dem Weihnachtsfest im Verbindung, dass es seit 1997 sogar die Auslieferungsfahrzeuge zum Weihnachtssymbol macht: die leuchtenden roten Coca-Cola-Weihnachtstrucks, die während der Adventszeit auch durch deutschen Städte rollen und „Weihnachtsstimmung“ verbreiten. Im Innern der über 16 m langen Fahrzeugen befinden sich „ein Wunsch-Studio sowie die Gute Stube von Santa Claus“. Die Grundidee zu dieser Tour, so vermittelt ein Pressetext des Unternehmens weiter, basiert auf einem TV-Werbespot, den die Coca-Cola Company in Atlanta in Auftrag gab. Dieser Spot sollte für die Zuschauer die typische amerikanische Weihnachtszeit symbolisieren. Bewusst vermittelt ein TV-Spot „Gift of Giving“ die Freude am Schenken und unterstreicht damit die jahrzehntelange Verbindung von Coca-Cola mit Weihnachten, besser: dem Weihnachtsgeschäft. So stellt sich im Handel das Unternehmen mit Promotion-Aktivitäten, weihnachtlichen Etiketten und Packungen inzwischen als die Weihnachtsmarke dar.

Alte Botschaft unter Tüll verborgen

Das alles, von der Wandlung des bösen Scrooge zum liebenswerten Menschen bis zum Aufstieg des traurigen Rudolph zum geschätzten Oberrentier; vom Bedenken und Beschenken der Benachteiligten bis zum Vorsatz des Gutseins für einen Tag ist letztlich in der christlichen Botschaft vom Kind im Stall verwurzelt. Dieses Kind wird sich entwickeln zum Mann, der sich der Gebeugten annimmt und sie aufrichtet, der die Trauer in Freude verwandelt und die Menschen mit der Erfahrung des Heils beschenkt. Eine Botschaft, verborgen unter Glitter und Tüll, doch wer diese als bloße Verpackung erkennt und behandelt, kann noch immer das eigentliche Geschenk finden.

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