„Welche Ernte um Himmels willen?“ – Zum Sinn des Erntedankfestes

Moritz Daniel Oppenheim, Sukkot
In seinem Roman „Der Rabbi“ schildert der Schriftsteller Noah Gordon unter anderem das Leben einer jüdischen Familie in New York. Im jedem Herbst baut der Großvater des späteren Rabbi Michael, der in jenem Abschnitt des Romans noch ein kleiner Junge ist, in dem winzigen Hinterhof des Hauses eine ssuke, eine kleine, mit Zweigen und Garben gedeckte Holzhütte für das Laubhüttenfest: Für einen alten Mann wie ihn war das eine schwere Arbeit, da ja vor Wiesen, Strohschober und Bäume in Brooklyn nicht gerade im Überfluss zu finden waren. So musste er manchmal das Baumaterial von weiter her heranbringen, wozu ihn sein Sohn Abe im Familien-Chevrolet aufs Land führte.
„Warum plagst du dich so?“ fragte Dorothy einmal, als sie ihm ein Glas Tee brachte, während er gerade keuchend und schwitzend mit dem Hüttenbau beschäftigt war. „Wozu diese schwere Arbeit?“ – „Um die Ernte zu feiern.“ – „Welche Ernte, um Himmels willen? Wir sind keine Bauern. Du verkaufst Konserven. Dein Sohn macht Mieder für Damen mit großen Hintern. Wer erntet?“ Mitleidig betrachtete er diese Frauensperson, die sein Sohn ihm zur Tochter gegeben hatte. „Seit Jahrtausenden, seit die Juden aus der Wüste gekommen sind, in Gettos und Palästen haben sie ssukess gefeiert. Man muss nicht Kohl pflanzen, um zu ernten.“ Seine große Hand fasste Michael im Nacken und schob ihn seiner Mutter zu. „Da ist deine Ernte.“
„Welche Ernte, um Himmels willen?“ – Die Frage nach Sinn eines Erntedankfestes etwa in einer Stadt, in der die meisten Menschen heute kaum noch selbst Gemüse und Früchte ernten, stellt sich auch uns jedes Jahr. Überhaupt scheint das typisch herbstliche Erntedankfest in einer Überflussgesellschaft, in der es inzwischen alles auch zu jeder Jahreszeit zu kaufen gibt, selbst höchst überflüssig zu sein. Und angesichts zunehmend manipulierter „Lebensmittel“ und „Food-design“, Mikrowellenmenüs und Fastfoodkultur wirkt ein Erntedankfest für viele geradezu anachronistisch, erscheinen die mit Früchten, Brot und anderen Lebensmitteln geschmückten Altäre wie ein Relikt aus längst überholter Zeit, ein allenfalls folkloristisches Brauchtum.
„Welche Ernte, um Himmels willen?“ Diese Frage stellt sich nicht nur einmal im Jahr; im Grunde ist ja jedes Tischgebet eine Art „Erntedank“ am Tag, weil wir hier Gott dank sagen für seine Gaben, die für uns bereitet worden sind. Und ebenso wird hier die Sinnhaftigkeit angezweifelt: Sollen, so wird gefragt, ja dürfen wir uns bei Gott für Speisen und Getränke bedanken, von der wir immer mehr wissen, dass ihr Genuss uns oft gesundheitlich gefährden kann und deren Produktion nicht selten die Hersteller – vor allem in der Dritten Welt – sogar ausbeutet und gefährdet? – Berechtigte Einwände, wie es scheint. Ebenso berechtigt wie die Einwände der Schwiegertochter des Alten aus Noah Gordons Roman anlässlich dessen Bemühungen um das Laubhüttenfest: Keiner von uns hat irgendetwas mit der Landwirtschaft zu tun; wir leben in einer Stadt, in der das Errichten von Laubhütten geradezu absurd erscheint, wenn man das Material dazu aus vielen Kilometern Entfernung herbeifahren muss. „Wer erntet?“
Am Erntedankfest wird mancherlei deutlich. Zum Beispiel, dass unsere Religion ihre Wurzeln in einer agrarischen Gesellschaft hat, in der das Erleben der Natur und ihrer Rhythmen – stärker als heute – eine wesentliche Rolle spielte. Oder auch, dass wir viele Formen und Riten pflegen, deren ursprüngliche Bedeutung heute oft gar nicht mehr gegeben ist. Werden da nicht Feste und Feiern zu bloßen Formen ohne Inhalt, zu leeren Hülsen, zu starren Ritualen? Der Gedanke liegt nahe, solche Feste mit der Zeit zu ignorieren, wie es die Schwiegertochter im Roman tut. Oder neue Formen und Zeichen zu suchen, in denen sich das Anliegen vielleicht besser zur Sprache und zum Ausdruck bringen lässt.
Der Großvater tut nichts von alldem. Er baut seine ssuke, weil dies Juden seit Jahrtausenden so tun – egal, in welcher Situation sie sich befanden. Das Grundanliegen dieses Festes, der Dank für die Ernte, hat sich für ihn nicht verändert, nur weil er in New York lebt und Konserven verkauft. Und die Zeichen, unter denen er das Laubhüttenfest begeht, die zusammengetragenen Sträucher, Zweige und Garben, sind Ausdruck dieser Tradition, in der er sich weiß. Sie haben ihre Bedeutung nicht verloren, nur weil es in Brooklyn unpassend erscheint, eine Laubhütte zu errichten. Wichtig und wesentlich ist es allein, diese alten Zeichen mit lebendigem Inhalt zu füllen: „Man muss nicht Kohl pflanzen, um zu ernten.“ Seine große Hand fasste Michael im Nacken und schob ihn seiner Mutter zu. „Da ist deine Ernte.“
Wir können von dem Alten eine Menge lernen – auch und gerade in Hinblick auf das Erntedankfest. Hat sich die ursprüngliche Bedeutung dieses Festes denn wirklich verändert, nur weil wir nicht mehr selbst ernten? Ist der Dank an Gott überflüssig geworden, nur weil es Spargel jetzt auch im Winter zu kaufen gibt? Der Dank für die Ernte, den es in vielen Religionen gibt, zeigt ein uraltes Verhältnis des Menschen zu Gott, dem er sich letztlich verdankt weiß. Was wir arbeiten und was für Resultate wir damit erzielen: Wir tun dies letztlich in Gottes Welt und Schöpfung, die er uns anvertraut hat, dass wir darin seine Größe zum Ausdruck bringen.
Das Erntedankfest ist ein alljährliches bewusstes „Danke“ für dieses Geschenk der Schöpfung, das sich besonders in den Gaben der Natur äußert. Wir können an diesen Dank aber auch all das anschließen, was unsere persönliche Ernte ausmacht: Unser Wirken im Beruf und die Erfolge, die wir darin erleben dürfen; unsere Kinder, die unsere eigene Frucht sind; unsere Beziehungen zu Menschen, an denen wir ein Leben lang arbeiten. All das ist unsere Ernte. Wir bringen sie nun vor Gott im Zeichen von Brot und Wein als unsere Welt, die er uns anvertraut.